[DE: IV: Heute ist der 6. Oktober 2006, und wir freuen uns, bei Frau Eva Štichová in der Pavrovského 12 in Prag 5 zu Besuch zu sein, um zusammen im Rahmen des Interviewprojekts mit ehemaligen tschechischen Häftlingen des Konzentrationslagers Flossenbürg und seiner Außenlager über ihr Leben zu sprechen.]

[DE: Frau Štichová, vielen Dank, dass Sie uns hier empfangen und begrüßt haben. Wenn Sie erlauben, möchte ich Ihnen gleich die erste Frage stellen. Könnten Sie mir etwas von Ihrer Kindheit erzählen, wann Sie geboren wurden, was Ihr Vater machte, Ihre Mutter?]

[DE: EŠ: Ich wurde in Nový Bohumín geboren, denn unsere Familie stammt aus dem Gebiet des Teschener Schlesiens. ]

[DE: Aber Bohumín habe ich gar nicht so richtig kennen gelernt oder besser gesagt gar nicht.]

[DE: Denn als ich zwei Jahre alt war, im Jahr 1929, zogen meine Eltern nach Prag.]

[DE: Und seit dieser Zeit lebe ich in Prag, bin auch in Prag zur Schule gegangen und fühle mich also eher als Pragerin.]

[DE: Dennoch bin ich jedes Jahr in das Gebiet Těšín gefahren, und das gerne, denn ich hatte in Střítěž bei Český Těšín meine Oma.]

[DE: Und dort habe ich meine ganzen Ferien verbracht. ]

[DE: IV: Könnten Sie mir sagen, was Ihr Vater machte?]

[DE: EŠ: Mein Vater war Angestellter in einem Verlag, Bromografia nannte der sich damals. ]

[DE: Wahrscheinlich war es ein privates Unternehmen, ich glaube, ein Familienunternehmen. Und meine Mutter war Hausfrau. ]

[DE: Ich hatte eine sechs Jahre ältere Schwester.]

[DE: Und wir lebten ein ganz normales geordnetes, „kleinbürgerliches“ Leben.]

[DE: IV: Das haben Sie jetzt interessant gesagt. Sie haben erwähnt, dass Sie oft zu Ihrer Oma nach Těšín gefahren sind. ]

[DE: Können Sie sich zum Beispiel an Unterschiede erinnern, konnten Sie zu dieser Zeit Unterschiede zwischen Prag und Těšín wahrnehmen?]

[DE: EŠ: Na, vor allem habe ich äh die sprachlichen Unterschiede wahrgenommen.]

[DE: Denn dort waren polnische Kinder, tschechische Kinder, und die Aufschriften auf den Läden]

[DE: und auf .. In den Dörfern und öffentlichen Plätzen waren tschechisch und polnisch.]

[DE: Allerdings sprach man dort einen Dialekt, man sagte dazu „auf unsere Art“, und das war eine Mischung. ]

[DE: Äh und die Kinder dort haben mich ausgelacht, denn ich sprach Pragerisch. Sie sagten, ich sänge, während sie „kurz“ {ohne die tschechischen Vokallängen} sprachen.]

[DE: Auf diese Weise habe ich also die Unterschiede wahrgenommen. Nun, und sonst war ich wie jedes Kind dort draußen.]

[DE: Wir fuhren Rad, ringsherum war Wald, Badeseen, Berge, und ich habe dort mit diesen Kindern äh während der Ferien ganz selbstverständlich gemeinsam gelebt.]

[DE: IV: Sie sprechen von Ferien. Woran erinnern Sie sich am stärksten aus Ihrer Schulzeit?]

[DE: EŠ: Als ich in die Schule gegangen bin? ]

[DE: IV: Hm.]

[DE: EŠ: Äh ich bin in Prag zur Schule gegangen. Wir wohnten in Karlín, auf dem heutigen Líček-Platz, dem damaligen Riegerovo náměstí. ]

[DE: Ähm ich gehörte zu den guten Schülerinnen. Nebenbei habe ich noch Sprachen gelernt.]

[DE: Mein Vater bestand darauf, und so lernte ich Deutsch und Französisch.]

[DE: Ich ging in den Sokol-Turnverein, ganz normal wie alle anderen Kinder.]

[DE: IV: Hatten Sie beispielsweise irgendwelche Lieblingsfächer?]

[DE: EŠ: Na, Geschichte moch.., na, Geschichte wohl nicht so, Geschichte und Erdkunde und Sprachen mochte ich immer, Tschechisch hatte ich gern. ]

[DE: IV: Und Sie stammen aus einer jüdischen Familie. Offenbarte sich das im Leben Ihrer Familie irgendwie praktisch?]

[DE: EŠ: Ich kann mich noch an ein paar Feiertage erinnern. Äh vor allem meine Mama hielt die Feiertage ein.]

[DE: Aber äh auch an.., andere Feiertage habe ich wahrgenommen, denn das habe ich aus der Schule mitgebracht.]

[DE: Alle anderen Kinder feierten das, zum Beispiel Weihnachten wurde auch gefeiert, Geschenke, nicht wahr.]

[DE: So in etwa war das, nicht, überhaupt nicht besonders kontrastreich oder intensiv oder mit Passion, das bestimmt nicht.]

[DE: IV: Was verbinden Sie mit dem Beginn der 30er Jahre und mit der sich verschlimmernden Situation, etwa in Bezug auf jüdische Flüchtlinge und die daraufffolgende Entstehung des Protektorats?]

[DE: Haben Sie beispielsweise zu Hause darüber gesprochen, über solche Dinge, oder haben Ihre Eltern Sie eher davon {abgeschottet}?]

[DE: EŠ: Für mich steht das vor allem mit München in Verbindung {mit dem Münchener Abkommen 1938} und damit, dass das Gebiet Těšín an Polen fiel. ]

[DE: Wir konnten die Oma nicht mehr besuchen und somit wurde ich im Grunde genommen aus meiner zweiten Heimat oder beinahe aus einem Naturparadies herausgerissen. ]

[DE: Wir sorgten uns damals natürlich sehr um meine Oma und dachten darüber nach, sie zu uns zu holen, zusammen mit ihrem jüngsten Sohn. ]

[DE: Aber das haben wir irgendwie nicht geschafft, das heißt, meine Eltern haben es nicht geschafft. Ich war ja noch klein. ]

[DE: Aber ich habe das eben mitbekommen, weil zu Hause darüber gesprochen wurde.]

[DE: Und sie sind also dort geblieben, als dann der Krieg ausbrach.]

[DE: Und die Sorge um sie, die war bei uns in der Familie äh ständig zu spüren. ]

[DE: Ansonsten habe ich das selbstverständlich allgemein auch in der Schule und persönlich gespürt. ]

[DE: Na, ich war im Jahr neununddreißig 12 Jahre alt. ]

[DE: Aber es zeigte sich zumindest darin, dass ich mich weigerte, weiter Deutsch zu lernen. ]

[DE: Und mein Vater war einverstanden und sagte: „Ja, aber dann lernst du Englisch.“ ]

[DE: Und ich begann, Englisch zu lernen, was mir dann im Leben recht nützlich war. ]

[DE: Und wenn ich jünger wäre {lacht}, dann würde es mir noch heute etwas nützen.]

[DE: IV: Haben Sie darüber nachgedacht, die ehemalige Tschechoslowakei zu verlassen, als die Situation im Protektorat schlimmer wurde?]

[DE: EŠ: Äh die ganze Familie sicher nicht, aber mein Vater kam einmal mit dem Vorschlag, dass ich weggehen könnte.]

[DE: Ich weiß nicht, ob nach England oder Palästina, einfach irgendwohin, mit irgendeinem Kindertransport.]

[DE: Aber ich habe das sofort ganz entschieden abgelehnt. ]

[DE: IV: Sie wollten nicht weg von Ihrer Familie? ]

[DE: EŠ: Ich wollte nicht.]

[DE: IV: Sie haben erwähnt, dass Sie Angst um Ihre Verwandten im Gebiet Těšín hatten. ]

[DE: Aber wenn ich mich nicht irre, dann hat sich ihre Situation dort gerade zu Kriegsbeginn sehr zugespitzt.]

[DE: EŠ: Sie hat sich extrem zugespitzt, niemand von ihnen lebt mehr.]

[DE: IV: Und wie ist das geschehen?]

[DE: EŠ: Das weiß ich nicht.]

[DE: IV: Und Ihr Onkel?]

[DE: EŠ: Ja mein Onkel, ja, der Onkel wurde gleich am ersten September {am 1. 9. 1939} nach dem Einmarsch der Deutschen verhaftet.]

[DE: Äh er war im Gefängnis, zuerst in Těšín, dann in Opava. Und dann ..]

[DE: versuchte mein Vater herauszubekommen, wo er ist, und man sagte ihm, in Sachsenhausen im Konzentrationslager.]

[DE: Und wenn er eine Kaution bezahlt, würde man ihn freilassen. Mein Vater bezahlte die Kaution.]

[DE: Und dann erfuhr er, dass er gar nicht in Sachsenhausen war und dass er mit seinen 33 Jahren in Buchenwald gestorben ist. ]

[DE: IV: Das war bestimmt sehr schwer für Sie. Äh Sie haben sich aber, außer dass Sie mit dem Deutschunterricht aufgehört haben, auch noch dem Widerstandskampf angeschlossen.]

[DE: EŠ: Ja, ich habe damals hier in einer Fabrik gearbeitet, der "Kondenzia“. Ich weiß nicht mehr genau, wie das ablief. ]

[DE: Man äh sagte mir einfach, ich wäre geeignet zum Austragen und Transportieren von irgendwelchen Flugblättern und Drucksachen.]

[DE: Ich sei klein, unauffällig, und ob ich nicht bereit dazu wäre. Da habe ich natürlich ja gesagt. ]

[DE: Und ich lernte sogar Judo, damit ich mich wehren kann, wenn mich jemand schnappt. {lacht}]

[DE: IV: Nun, das ist ja eine wirklich praktische Sache.]

[DE: EŠ: {lacht} Ja, wirklich praktisch. Ich bin also zum Judo gegangen, daran kann ich mich bis heute erinnern. Ich kann nichts mehr, aber wenn ich die Griffe sehe, dann erinnere ich mich wieder.]

[DE: IV: Haben Sie Ihre Entscheidung mit Ihren Eltern abgesprochen?]

[DE: EŠ: Ach woher, die durften davon nichts wissen, niemand wusste etwas davon. ]

[DE: Ich hatte nur eine Freundin, wir haben das zusammen gemacht, sind zusammen gegangen.]

[DE: IV: Sie haben zwar im Widerstand gearbeitet, aber das schützte Sie natürlich nicht vor den Maßnahmen gegen die Juden, ]

[DE: die langsam auch im Protektorat äh umgesetzt wurden. Wie haben Sie diese Dinge erlebt?]

[DE: EŠ: Nun, vor allem musste ich die Schule verlassen. Die Schule war für mich fast vorbei, nur – ich weiß nicht, wer das organisiert hat, ich denke, die jüdische Gemeinde. ]

[DE: Die hat so Zirkel in Wohnungen organisiert, wo Kinder des gleichen Alters zusammenkommen und weiter lernen durften. ]

[DE: Ich wurde also in einem solchen Zirkel aufgenommen, immer wochenweise.]

[DE: Wir waren sechs oder sieben und waren immer abwechselnd eine Woche in den Wohnungen. ]

[DE: Jede Woche wurde immer in einer Wohnung das Esszimmer geräumt, und dort hatten wir Unterricht.]

[DE: Und dann kamen Fachleute dahin oder Leute, die die Gemeinde geschickt hat, das weiß ich nicht genau. ]

[DE: Aber was ich weiß, dass es gute Lehrer waren, denn was ich später brauchte oder konnte, das habe ich in diesen Zirkeln gelernt. ]

[DE: Und später dann auch bei dem ganz ähnlichen Unterricht in Theresienstadt.]

[DE: IV: Und dadurch, dass Sie nicht mehr in die Schule gehen durften, haben Sie da Freunde verloren oder auch ein paar neue dazu gewonnen?]

[DE: EŠ: Na, {Tassenklappern} unter den Kindern in diesem Zirkel, denn mit den Kindern aus der Schule kam ich nur selten in Kontakt. ]

[DE: Denn ich hätte sie ja quasi in Gefahr gebracht, und so hatte ich eher Freunde unter den Kindern in diesem Zirkel.]

[DE: IV: Nun, und dann folgte eigentlich äh sehr bald Ihre Vorladung in den Messepalast {d. h. auf den Sammelplatz im Prager Messepalast}. Wie lief das ab?]

[DE: EŠ: Ich wurde schon am 6. September 1942 in den Messepalast und zum Transport beordert. ]

[DE: Und im Unterschied zu all meinen anderen Freunden wurde ich allein hinbestellt. ]

[DE: Äh meine Eltern sollten zu Hause bleiben, auch meine Schwester, nur mich hat man vorgeladen. ]

[DE: Mein Vater ging auf ein Amt, ich weiß nicht, wie das Amt hieß, das der Eichmann leitete oder ich weiß nicht, wie das hieß. Einfach auf das Amt, das die Transporte organisierte. ]

[DE: Und als ich weg musste, da fragte er, ob wenigstens die Familie mitgehen könnte.]

[DE: So wie bei den anderen, damit die Familie zusammen ist, aber die haben ihn rausgeworfen und gesagt, ]

[DE: nur ich müsse kommen, und so bin ich allein hingegangen.]

[DE: IV: Und wie lange hat es gedauert, bis Sie dann nach Theresienstadt gekommen sind?]

[DE: EŠ: Wir waren ungefähr drei Tage im Messepalast. ]

[DE: Wir schliefen auf dem Boden und warteten auf den Transport.]

[DE: Ich glaube, es waren zwei Tage oder drei, genau kann ich mich nicht erinnern.]

[DE: IV: Hatten Sie in dem Transport irgendwelche Bekannte oder Freunde?]

[DE: EŠ: Nein, nein, ich war da allein.]

[DE: IV: Das war sicher recht schwer.]

[DE: EŠ: Nun, ich musste mich realistisch damit auseinandersetzen. Ich habe mir gesagt: „Es ging irgendwie und es wird auch irgendwie weitergehen.“]

[DE: IV: Und wie waren Ihre ersten Eindrücke von Theresienstadt?]

[DE: EŠ: Darauf kann ich heute nur sehr schwer antworten {lacht}, denn das war dort alles chaotisch.]

[DE: Zum ersten Mal war ich ohne meine Eltern, zum ersten Mal woanders.]

[DE: Ich weiß, dass die Reise von Theresienstadt nach Bohušovice schrecklich war. ]

[DE: Denn ich schleppte 50 Kilo, ich weiß nicht, was meine Mutter mir da alles eingepackt hatte. Es war einfach fürchterlich schwer, es war heiß.]

[DE: Nun, und dabei waren es doch nur drei Kilometer, SS-Leute auf beiden Seiten.]

[DE: Also dieser Weg war ziemlich anstrengend für mich. ]

[DE: Aber in Theresienstadt hat man sich dann zum Glück bald nach diesem ganzen Aufnahmechaos um mich gekümmert. ]

[DE: Und ich kam ins Mädchenheim L 410. ]

[DE: Na, und dort fiel dann der Schrecken doch ein wenig von mir ab, denn ich sah dort Mädchen, die ungefähr das gleiche Schicksal hatten und etwa genauso alt waren wie ich.]

[DE: Und da sagte ich zu mir: „Es geht irgendwie und es wird auch irgendwie weitergehen, vielleicht wird ja alles gar nicht so schlimm.“]

[DE: Und ich wurde auch gleich zur Arbeit eingeteilt, weil ich schon 15 war.]

[DE: Und zwar zu einer recht angenehmen Arbeit in der Gärtnerei hinter dem Ghetto. Damals hieß das „Kreta“, ich weiß nicht, wie das heute ist.]

[DE: Dort war eine große Gärtnerei, natürlich für die SS-Leute, aber zumindest war ich an der frischen Luft. ]

[DE: Und dort arbeitete ich also bis Juni des Jahres '44.]

[DE: IV: Und Sie waren ja eigentlich ohne Familie da, hat sich jemand um Sie gekümmert?]

[DE: EŠ: {Räuspern} Jedes Haus für die Jugendlichen war nach Zimmern untergliedert, in Zimmer, und in jedem Zimmer war eine Betreuungsperson. ]

[DE: Das war eine ältere Frau, die meisten waren ursprünglich Lehrerinnen, Professorinnen, Sozialarbeiterinnen oder so etwas ähnliches.]

[DE: Und die kümmerten sich in jedem Zimmer um ihre Zöglinge. ]

[DE: Na, und in meinem Zimmer hatte ich eine ganz tolle Frau, Irenka Krausová. ]

[DE: Sie kümmerte sich um uns alle, und äh um mich, denke ich, besonders, denn sie war so etwas wie mein Vormund.]

[DE: IV: Sie haben gesagt, dass Sie allein nach Theresienstadt mussten, aber schließlich haben Sie den Rest Ihrer Familie ebendort in Theresienstadt getroffen.]

[DE: EŠ: {Husten} Als meine Eltern 1944 {wahrscheinlich: 1943} kamen, ]

[DE: war ich gerade krank, ich war auf der Infektionsabteilung und konnte sie nicht sofort treffen.]

[DE: Aber zum Glück wurde ich schnell gesund und dann haben wir uns getroffen. ]

[DE: Aber nicht für lange, denn im September 1944 {wahrscheinlich: 1943} kamen sie mit dem Transport nach Auschwitz.]

[DE: Und das war das letzte Mal, dass ich sie gesehen habe. ]

[DE: IV: Sie haben erwähnt, dass Sie in der Landwirtschaft gearbeitet haben. Hat Ihnen das etwas genützt, abgesehen davon, dass Sie eben an der frischen Luft waren?]

[DE: EŠ: Nun, dass es einem viel genützt hätte, kann man nicht sagen, dass wir uns satt gegessen hätten {lacht}, das bestimmt nicht. ]

[DE: Aber ab und zu hat man es doch geschafft zum Beispiel eine Gurke oder Tomate zu essen. ]

[DE: Das war nämlich so ein Betrieb, wo nur Kopfsalat, Kohlrabi, Gurken, Einlegegurken und Tomaten gezüchtet wurden, nichts anderes. ]

[DE: Das war so eine Großproduktion für die SS-Leute.]

[DE: Das heißt eine Tomate und eine Gurke, für Kohlrabi war keine Zeit, für Salat auch nicht, und der war auch zu groß. ]

[DE: Trotzdem konnte ich ab und zu eine Gurke – keine Tomate, die war zu weich – aber eine Gurke in den Stiefel stecken. ]

[DE: Oder irgendwo andershin am Körper und sie nach Hause mitnehmen, naja, „nach Hause“ – ins Ghetto halt.]

[DE: Äh das war manchmal recht gefährlich, denn es war außerhalb der Ghettoschranken. ]

[DE: Und an diesen Schranken standen Frauen. Ich weiß nicht, ob die zur Gendarmerie {d. h. des Protektorats} oder zur SS gehörten, ich weiß nicht, was das für Frauen waren. ]

[DE: Wir nannten sie „berušky“ {tschech. Wortspiel von „brát“ = wegnehmen, auch: „Marienkäfer“}, denn sie nahmen uns alles weg, was sie bei uns fanden.]

[DE: Sie durchsuchten uns sehr gründlich am ganzen Körper, aber nur stichprobenartig, also hatte man entweder Glück oder Pech.]

[DE: Ich habe es immer geschafft. Aber ich habe das, was ich mitbrachte, nicht gegessen, ich habe es immer abgegeben.]

[DE: Das war so eine organisierte, solidarische Hilfe, und wer eine solche Möglichkeit hatte, der gab etwas ab. ]

[DE: So habe ich es also auch gemacht, bis zu dem Zeitpunkt, bis ich im Juni 1944 erwischt wurde.]

[DE: Ich glaube nicht, dass ich zu ungeschickt war, ich denke, der SS-Mann hat mit dem Fernrohr Ausschau gehalten. ]

[DE: Er hat mich einfach erwischt, wie ich mir eine Gurke in den Stiefel steckte.]

[DE: Na, und dann kam er gleich her, zog die Gurke heraus, schlug mich, und am selben Tag musste ich aus „Kreta“ verschwinden.]

[DE: IV: Und wohin sind Sie verschwunden?]

[DE: EŠ: In diesem Kinderheim oder Mädchenheim gab es, wie ich schon gesagt habe, tolle Betreuerinnen, die sich um uns kümmerten. ]

[DE: Und auch in diesem Fall haben sie sich um mich gekümmert.]

[DE: Da ich schon etwas älter war, ich war schon 17, ]

[DE: machten sie mich zur Helferin bei der Arbeit mit den Kindern, und schickten mich als Hilfskraft zur Malerin Friedl Brandeis-Dicker {1898-1944, Bauhaus-Absolventin, berühmt für ihre Malklassen in Terezín}.]

[DE: Sie unterrichtete die Kinder dort im Zeichnen oder beschäftigte sie mit Malen und Zeichnen. ]

[DE: Denn das war erlaubt, die jüngeren Kinder, die sich ja tagsüber irgendwie beschäftigen mussten, die nicht arbeiteten. ]

[DE: Bei ihr war ich also Hilfskraft. Sie stammte ursprünglich aus Wien, konnte also nur wenig Tschechisch. ]

[DE: Ich war also ihre Ver.., Vermittlerin und half ihr beim Signieren der Arbeiten und bei der Einteilung und beim Materialausteilen und so weiter. ]

[DE: Na, und das war für mich auch eine sehr schöne Arbeit, und mir hat es sehr viel gebracht, einfach nur an ihrer Seite zu sein. ]

[DE: Und auch die Arbeit mit den Kindern.]

[DE: IV: Das Theresienstädter Ghetto wurde zu einem bestimmten Zeitpunkt auch von einer Kommission des Internationalen Roten Kreuzes besucht. Erinnern Sie sich an diese Situation?]

[DE: EŠ: Ja, das war genau zu der Zeit, als ich schon bei Friedl arbeitete. ]

[DE: Na, und ich erinnere mich, wie auf einmal alles geputzt und vorbereitet wurde, man baute einfach Potemkinsche Dörfer. ]

[DE: Und auf dem Hauptplatz wurde sogar eine Art Pavillon gebaut, errichtet, mit einer Kapelle, die dort aufspielte. ]

[DE: Und d.., dann, dann erinnere ich mich auch, dass unter unserem Fenster eines Nachts ein Transport mit offensichtlich geistig Behinderten vorbeifuhr, die man vorher, vor diesem Besuch, einfach verräumte.]

[DE: Das war fürchterlich, wie sie schrien, und dann durften sie {die Mitglieder der Kommission} sowieso nur die vorbereitete Trasse entlanggehen. ]

[DE: Dieser Besuch wich also weder nach links noch nach rechts vom Weg ab. ]

[DE: Und wenn sie mit jemandem sprachen, dann war das wieder alles nur auf der Trasse, also vorbereitet.]

[DE: IV: Sie haben auch von den Transporten gesprochen. Was wusste man in Theresienstadt darüber, wohin man transportiert wurde, haben Sie das als Gefahr wahrgenommen?]

[DE: EŠ: Nun, dass es schlimmer wird und dass es etwas Furchtbares sein wird, das musste jeder ahnen, denke ich. ]

[DE: Ich selbst habe damals eine Karte von meinen Eltern bekommen, und zwar eine Karte ..]

[DE: Das ist recht bekannt, dass sie von eben diesem Transport im September, mit dem meine Eltern weggeschafft wurden, Karten an ihre Verwandten schreiben mussten, ]

[DE: die vordatiert {vermutlich: vorausdatiert} waren. ]

[DE: So eine Karte habe ich auch bekommen. Und ich hatte mit meinem Vater abgemacht, dass er, wenn es nicht so schlimm kommt und es dort auszuhalten ist, die lateinische Schrift verwendet.]

[DE: Es musste natürlich auf Deutsch sein, auf nicht zugeklebten Bögen. Und wenn es schlimm ist, dann sollte er Fraktur schreiben, das konnte ich noch aus der Zeit, als ich Deutsch lernte.]

[DE: Und diese Karte war in Fraktur geschrieben, und so wusste ich, dass es böse aussieht.]

[DE: Aber konkret, dass man in Gaskammern kam, das glaube ich, konnte man sich als normaler Mensch damals überhaupt noch nicht vorstellen. ]

[DE: Dafür reichte, so denke ich, meine Phantasie nicht aus. ]

[DE: IV: Ich glaube, da waren Sie nicht die Einzige, und das ist ganz verständlich, doch außer Ihren Eltern war ja auch Ihre Schwester in Theresienstadt. Wo hat sie gearbeitet?]

[DE: EŠ: Meine Schwester arbeitete als Schwester im Krankenhaus und {seufzt} und wir wurden beide, beide im Mai '44]

[DE: zum Transport eingeteilt, aber als wir aus der Quarantäne zum Waggon liefen .. {weint} ]

[DE: Ich kann nicht.]

[DE: IV: Machen wir eine Pause.]

[DE: EŠ: Nehmen Sie sich Tee. Sehen Sie, wie ich es gesagt habe, das ist der Moment, den ich wohl nicht überstehe.]

[DE: Aber es ist interessant, nicht wahr? Nur dass ich nicht ruhig davon erzählen kann.]

[DE: IV: Vielleicht könnten Sie ..]

[DE: EŠ: Nun, ich werde es Ihnen jetzt .. Jetzt bin ich irgendwie vorbereitet.]

[DE: Bereits als wir aus der Quarantäne zu dem Waggon liefen, das passierte natürlich nachts im Licht der Scheinwerfer, so wie alles in diesen Konzentrationslagern gemacht wurde,]

[DE: und auf dem Hof vor der Ein.., Einfahrt, dem Eingang zu den Waggons stand Rahm, das war der SS-Befehlshaber von Theresienstadt.]

[DE: Der hat mich angehalten, und fragte, wie alt ich bin und wo ich arbeite, und hat mich einfach aussortiert.]

[DE: Er sagte, ich solle zurückgehen, also bin ich dort geblieben und meine Schwester ging weiter.]

[DE: IV: Das muss schwer gewesen sein, aber es zeigt, dass über das Schicksal eines Menschen einfach auch der Zufall entschied.]

[DE: EŠ: Aber mir ging es schrecklich. Dass ich dort geblieben bin, die Eltern waren schon fort, und nun musste sie wieder alleine weiter, statt dass wir wenigstens zusammenblieben.]

[DE: IV: Wie verliefen dann Ihre weiteren Tage in Theresienstadt?]

[DE: EŠ: Äh ich habe ganz normal gearbeitet, nicht wahr, ich musste mich wie übrigens die meisten meiner Leidensgenossen mit diesem Schicksal abfinden. ]

[DE: Man funktionierte einfach in einem gewissen Automatismus weiter, bis zum September 1944, als ich selbst zum Transport eingeteilt wurde.]

[DE: Aber vielleicht sollte ich hier äh noch erwähnen, dass es in Theresienstadt genauso wie in den anderen Konzentrationslagern auch eine geheime Untergrundorganisation gab,]

[DE: der auch ich angehörte, dazu gehörte auch, dieses Gemüse abzugeben, schon vorher.]

[DE: Aber jetzt arbeitete ich da irgendwie noch intensiver mit. Ich hatte nichts mehr zu verlieren. ]

[DE: Und wahrscheinlich konnte man da auch Radio empfangen, denn es wurden Nachrichten abgeschrieben, was auf der Welt passiert.]

[DE: Und solche Nachrichten habe ich – in Blockschrift, damit nicht zu erkennen war, wer das geschrieben hat – vervielfältigt und dann habe ich sie ausgetragen. ]

[DE: Ich kann mich noch bis heute daran erinnern, dass ich als Patientin in eine Zahnarztpraxis gegangen bin zu ..]

[DE: Ich erinnere mich nicht mehr an den Familiennamen, eine hieß Raisa und die andere hieß Eva. ]

[DE: Beide Zahnärztinnen und beide in die illegale Organisation involviert, und so konnte ich ihnen dort diese schriftlichen Übersichten übergeben. ]

[DE: Und das war wichtig, die Übergabe dieser Nachrichten, denn solche Informationen munterten einen irgendwie auf und hielten einen aufrecht. ]

[DE: Äh und Verbindungsmann, das wird Sie vielleicht interessieren, war der später berühmte Historiker František Graus {1921-1989, Mediävist, nach 1968 Emigration}. ]

[DE: IV: Nun, es ist klar, dass in Theresienstadt die Blüte, wenn ich so sagen darf, der tschechischen jüdischen Intelligenz zusammenkam, erinnern Sie sich zum Beispiel an irgendwelche kulturellen Veranstaltungen, die dort stattfanden?]

[DE: EŠ: Sicher, und die kulturellen Veranstaltungen waren eigentlich auch so ein Ausdruck, ich will nicht sagen, des Widerstandskampfes, aber des Widerstands. ]

[DE: Denn ein Mensch, der zu Kulturveranstaltungen geht und sich mit Kultur befasst, ist nicht nur eine Nummer, nicht. Er ist ein Mensch und behält sein Selbstbewusstsein und ein gerades Rückgrat und bis zu einem Punkt vielleicht auch seinen Optimismus. ]

[DE: Also, die kulturellen Veranstaltungen waren etwas Wunderbares. Ich bin immer hingegangen, fast jeden Tag.]

[DE: Äh nach .. nach Einbruch der Dämmerung musste man zu Hause sein, nicht wahr, aber nach der Arbeit, man arbeitete bis sechs und bis acht war noch Zeit. ]

[DE: Und das Interessante an der Kul.., an dieser Kultur in Theresienstadt war, dass an einem so unfreien Ort die äh Kultur eigentlich viel freier war als im damaligen Protektorat. ]

[DE: Denn man spielte dort die Gebrüder Čapek, „Aus dem Leben der Insekten“ zum Beispiel, das war im Protektorat natürlich verboten. ]

[DE: Ich habe dort Gogols „Heirat“ gesehen, Gogol wurde im Protektorat sicher nicht gespielt, nun, und solche Paradoxa eben. ]

[DE: Nun, aber das größte Erlebnis für uns war vermutlich die "Verkaufte Braut", die dort in konzertanter Form einstudiert wurde.]

[DE: Die habe ich dann mehrmals gesehen und habe das immer für mich gesungen. ]

[DE: Ansonsten gab es dort auch interessante Vorträge aus anderen Bereichen, aus der Philosophie, äh aus der Kunstgeschichte.]

[DE: Wie Sie sagen, die Spitze der Intelligenz war dort, das stimmt wirklich, denn es waren Phi.., Philosophen dort, Kunsthistoriker, Historiker und was weiß ich wer noch alles. ]

[DE: Und jeder, der zu der Zeit konnte, als es erlaubt war, das muss ich noch erwähnen – Musikwissenschaft, Konzerte, nicht wahr, Karel Ančerl {Karel Ančerl, 1908-1973, Dirigent}, Berman {Karel Berman, 1919-1995, Opernsänger}.]

[DE: So hat jeder versucht, das, was er im Kopf hatte, den anderen einfach weiterzugeben. ]

[DE: Und ich habe dort einfach auch viel mitbekommen.]

[DE: Äh außerdem wurde in diesen Jugendheimen heimlicher Unterricht organisiert. ]

[DE: Wie ich schon gesagt habe, die Kinder durften beschäftigt werden. ]

[DE: Und wir hatten einmal äh in 14 Tagen einen freien Sonntag, und da wurde natürlich aufgeräumt, gewaschen und so. ]

[DE: Aber es wurden auch äh Singstunden und Unterricht organisiert, auch an den Abenden, als wir dann nicht mehr raus durften und zu Hause bleiben mussten, da haben wir dann also gelernt. ]

[DE: Äh, ich weiß nicht, ob Mathematiker, Physiker dort waren, zumindest ich habe dort keine Mathematik, Physik und Chemie gelernt. ]

[DE: Was mir später fehlte, das musste ich dann mühsam aufholen {lacht} und dann später in der Schule waren das die schwierigsten Fächer für mich. ]

[DE: Aber ansonsten auch Sprachen, Tschechisch, tschechische Literatur, Kunstgeschichte, äh das wurde dort unterrichtet. ]

[DE: Und das gab mir auch eine Grundlage für das spätere Leben nach dem Krieg, nicht wahr, dass ich überhaupt in der Lage war, an die unterbrochene Ausbildung anzuknüpfen.]

[DE: IV: Doch Sie haben erwähnt, dass das {d. h. die Organisation von Kulturveranstaltungen} nur für eine gewisse Zeit erlaubt war.]

[DE: EŠ: Ja, ja. Das war besonders in der Zeit er.., erlaubt, als der Besuch des Roten Kreuzes erwartet wurde. ]

[DE: Aber ich denke auch, dass das von den Deutschen toleriert wurde, weil, na weil das von einem gewissen Zynismus geleitet war: ]

[DE: „Macht hier, was ihr wollt, euer Ende steht sowieso fest.“ ]

[DE: Aber die wussten nicht, dass unterrichtet wird, die dachten nur, dass gesungen und gespielt und Theater gespielt wird und so, nicht wahr, Dinge, die sie nicht weiter störten.]

[DE: IV: Aber leider endete diese Zeit in Theresienstadt für Sie auch zu einem bestimmten Zeitpunkt. ]

[DE: Wie ging überhaupt diese Vorladung zum Transport vor sich, in die Lager im Osten? ]

[DE: Bekam man vorher Bescheid oder waren die Listen irgendwo ausgehängt?]

[DE: EŠ: Nun, ich kann nur über meine Erfahrungen berichten, weil ich nicht weiß, ob das überall so war. ]

[DE: Ich habe so einen kleinen Zettel bekommen, darauf stand, ich sollte um so und so viel Uhr in die – damals nannte man das Hamburger Kasernen – kommen. ]

[DE: Das war so eine, eine Quarantänestelle, und das war es dann schon. ]

[DE: Na, und mein größtes Problem war, dass ich gerade dieses abgeschriebene Material bei mir hatte, und jetzt wusste ich nicht, was ich damit machen sollte.]

[DE: So habe ich noch bis zu dem Moment gewartet, an dem ich antreten sollte, und habe mir gesagt, wenn es niemand abholt, spüle ich es in der Toilette runter oder esse es auf oder so, ich mache einfach was damit.]

[DE: Ich würde es einfach nicht aus der Hand geben und niemand darf es aus meiner, aus meinen Händen bekommen. ]

[DE: Aber die Organisation hat offensichtlich funktioniert und die Konspiration auch, denn noch bevor ich weg musste, kam eine Frau oder ein Mädchen zu mir, das ich bis dahin nicht kannte. ]

[DE: Aber sie kannte mich offenbar, und sie sagte zu mir: „Du hast das und das bei dir, gib es mir.“ ]

[DE: Und so habe ich es ihr gegeben, mir fiel ein Stein vom Herzen, und ich ging in die Hamburger Kasernen. {lacht}]

[DE: IV: Frau Štichová, Sie haben zuletzt erwähnt, dass Sie sich also in den Hamburger Kasernen einfinden mussten und auf den Transport warteten. ]

[DE: Was war das für ein Transport?]

[DE: EŠ: {liest von einem Zettel mit Notizen ab} Der Transport hieß En. Er verließ Theresienstadt am 4. Oktober 1944. ]

[DE: Darin befanden sich 1500 Personen.]

[DE: Und wie ich später feststellte, waren es 971 Frauen und nur 20 Männer, ]

[DE: davon nur etwa 460 Frauen ohne Kinder, die übrigen Frauen waren mit ihren Kindern dort. ]

[DE: Es waren 509 Kinder und etwa 200 Jugendliche.]

[DE: Nein, {korrigiert sich} 509 Kinder und Jugendliche zusammen,]

[DE: davon 160 Kinder bis sechs Jahre, 224 Kinder von sechs bis 14 Jahren,]

[DE: 125 Kinder oder Jugendliche von 14 bis 18 Jahren und 60 Kinder {nachdrücklich} unter drei Jahren.]

[DE: Dieser Transport war schrecklich. Er dauerte, ich weiß nicht, zwei Tage, zwei Nächte.]

[DE: Sie können sich vorstellen, wie diese Kinder weinten und jammerten, ohne Essen, ohne alles, ohne Trinken.]

[DE: Nun, und das Schlimmste kam dann auf der Rampe in Auschwitz, denn die Kinder kamen mit ihren Müttern auf die schlechte Seite, wie man sagte.]

[DE: Ich sah relativ gut aus, ich war 17, hatte in der Landwirtschaft gearbeitet, ich war groß.]

[DE: Also war ich noch arbeitsfähig und kam auf die bessere Seite, auf die gute.]

[DE: IV: Das konnte man aber eigentlich nicht wissen.]

[DE: EŠ: Deshalb sage ich die bessere, gute, zu dieser Zeit wohl bessere Seite.]

[DE: IV: Wo hat man Sie dann in Auschwitz untergebracht?]

[DE: EŠ: Wir kamen in irgendwelche .. Ich weiß nicht, ob das ehemalige Ställe waren oder was, irgendwelche Holzbaracken.]

[DE: Und vor allem standen wir dauernd Appell und wurden ständig gezählt, nicht wahr, manuell quasi {lacht}.]

[DE: So standen wir da also stundenlang herum.]

[DE: IV: Und wurde außer den Appellen in diesen Tagen noch etwas anderes gemacht?]

[DE: EŠ: Ich erinnere mich nur an einen dieser Appelle {lacht}, dass ich einmal, weil wir lange in der Sonne gestanden hatten,]

[DE: und ich war da eigentlich schon krank, deshalb bin ich häufig ohnmächtig geworden.]

[DE: Und einmal hörte ich in diesem Halbdämmer über mir so eine Kapofrau –]

[DE: Kapofrauen, das waren unsere, sagen wir, zwar Mitgefangene, aber Vorgesetzte, eine Polin war das.]

[DE: Sie sagte: „Wenn uns die hier immer umfällt, dann geht sie in den Schornstein.“]

[DE: Nun, damals kannte ich die Bedeutung des Wortes „Schornstein“ schon, ]

[DE: und so rappelte ich mich hoch und bin ab diesem Zeitpunkt nicht mehr ohnmächtig geworden.]

[DE: Obwohl diese Krankheit nicht besser wurde, eher schlechter, also ..]

[DE: IV: Was hatten Sie?]

[DE: EŠ: Ich hatte eine schwere Mittelohrentzündung.]

[DE: IV: Und haben Sie zum Beispiel in Auschwitz Bekannte getroffen? ]

[DE: Kannten Sie dort jemanden?]

[DE: EŠ: Äh dort, meine Verbindungsfrau, die das Material abgeholt hatte, hatte mir gesagt, wie die Konspiration schon einmal am Laufen war:]

[DE: „In deinem Transport ist eine gewisse Katka Fuksová."]

[DE: "Wenn ihr die Gelegenheit habt, dann tut euch zusammen."]

[DE: "Und sucht in Auschwitz die Widerstandsorganisation, die dort tätig ist. Sie werden euch dort alles weitere sagen."]

[DE: Wir fanden keine Widerstandsorganisation, aber in diesem Wirrwarr und der kurzen Zeit war das auch gar nicht nötig.]

[DE: Aber wir beide haben uns gefunden und waren dann immer zusammen.]

[DE: IV: Das hat Sie, nehme ich an, wahrscheinlich sehr gestärkt.]

[DE: EŠ: Sicher.]

[DE: IV: Sie haben auch eine interessante, vielleicht etwas lustige Episode erwähnt, als Sie die Möglichkeit hatten, sich selbst anzusehen.]

[DE: Wie ist das abgelaufen?]

[DE: EŠ: Äh das erste, was man mit jemandem tat, der auf die bessere Seite kam, war, ihn von allen Auswüchsen zu befreien, um es mal so zu sagen.]

[DE: Man rasierte uns von Kopf bis Fuß, die Achseln, man rasierte uns kahl, natürlich nahmen sie uns auch die Kleider weg und alles.]

[DE: Und so nackt trieben sie uns einfach hinaus, vor diese Baracken.]

[DE: Und diese Baracken hatten auch Fenster und wir standen dort in Fünferreihen.]

[DE: Wir warteten wie üblich darauf, dass sie uns zählten.]

[DE: Und auf einmal sah ich in diesem Fenster die Reihe dieser erbärmlichen Gestalten.]

[DE: Und nun besah ich mir die Größte unter ihnen.]

[DE: Und als ich mich umschaute, da sah ich, dass ich die Größte bin.]

[DE: Und daran habe ich erkannt, dass diese größte Gestalt in diesem Fenster ich bin.]

[DE: Andernfalls hätte ich mich nicht erkannt.]

[DE: IV: Ich bin froh, dass ich so etwas nicht erlebt habe.]

[DE: Aber dadurch, dass Sie zur Arbeit eingeteilt wurden, war dieser Aufenthalt in Auschwitz eigentlich Warten auf den Arbeitstransport. ]

[DE: Wie lief das ab?]

[DE: EŠ: Eines Nachts, wie üblich, jagten sie uns auf einmal aus den Stockbetten.]

[DE: Wir traten in das Licht der Scheinwerfer und wurden abgezählt.]

[DE: Wir erhielten äh ein Kleid, ein Paar Holzschuhe, ein Hemd und Unterhosen.]

[DE: Und wir wurden in Waggons getrieben, in solche Viehwaggons natürlich.]

[DE: Na, wohin wir fuhren wussten wir natürlich nicht. Aber ich erinnere mich, dass ich eines Morgens an das kleine Fenster ganz oben herankam.]

[DE: Und zufällig erkannte ich äh Dresden, dass wir in Dresden sind.]

[DE: Na, da sagte ich mir: "Na, wir fahren zur Arbeit nach Deutschland, ganz klar."]

[DE: Und interessant ist, dass ich die Kirchen und Gebäude von Dresden noch ganz gesehen habe.]

[DE: Später, als wir aus Freiberg wegfuhren, sah ich von diesen Gebäuden nur noch Ruinen.]

[DE: IV: Sie haben erwähnt, dass Sie damals nach Freiberg kamen.]

[DE: Wie sah es dort aus, als Sie ankamen?]

[DE: EŠ: Anfangs wohnten wir direkt in der Fabrik, in der wir arbeiteten.]

[DE: Was den Vorteil hatte, dass es dort warm war und dass wir keine Zeit mit dem Marsch zur Arbeit verloren.]

[DE: Aber andererseits war es schrecklich, denn dort war es voller Wanzen und Flöhe, so dass wir überhaupt nicht schlafen konnten.]

[DE: IV: Sie haben erwähnt, dass Sie dort in einer Fabrik gearbeitet haben. Was haben Sie dort hergestellt?]

[DE: EŠ: Es war eine Fabrik. Sie hieß Freia, weil sie in Freiberg war, aber sie gehörte zu einem Flugzeugkonzern. ]

[DE: Und wir haben dort Flügel hergestellt, aber eher so kleine Flügel.]

[DE: Ich weiß nicht, ob sie für Jagdflugzeuge oder Raketen bestimmt waren, aber die Flügel waren klein.]

[DE: Und ich habe in einer Werkstatt gearbeitet, wo ich diese Flügel genietet habe.]

[DE: IV: Wieviele Stunden mussten Sie täglich arbeiten?]

[DE: EŠ: Zuerst 14 und später 12, eine Woche Nachtschicht und eine Woche Tagschicht.]

[DE: IV: Wieviele waren Sie ungefähr in Freiberg?]

[DE: EŠ: In Freiberg waren sehr sehr viele Menschen.]

[DE: Da waren sowjetische Kriegsgefangene und westliche Kriegsgefangene, Italiener waren da. Äh, das war .. Da gab es große Lager.]

[DE: Aber in dem Lager, in dem ich war, waren 1000 Frauen – 500 Polinnen und 500 Tschechinnen. ]

[DE: IV: Und wie sah die Versorgung dort aus?]

[DE: EŠ: Nun, zum einen wurde sie immer schlechter, nicht wahr, die Zuteilungen wurden gekürzt.]

[DE: Aber zumindest am Anfang gab es morgens einen halben Liter von irgendeiner heißen Flüssigkeit, die sich Kaffee oder Tee nannte. Ich weiß nicht, was das für ein Aufguss war.]

[DE: Äh und mittags gab es entweder zwei Kartoffeln in der Schale oder wieder einen halben Liter von dieser seltsamen Flüssigkeit.]

[DE: Einmal war Hirse drin, ein anderes Mal, manchmal Steckrüben.]

[DE: Ich weiß nicht, jedesmal schwamm irgendetwas darin herum.]

[DE: Und zum Abendessen gab es Brot, ich weiß nicht, ob es 200 Gramm waren oder .. Ungefähr zwei Scheiben wurden daraus.]

[DE: Na, die meisten aßen das Brot gleich ganz auf. Einmal habe ich versucht –]

[DE: und das war unglaublich schwer, denn wir hatten keine Messer, nicht war, das war nicht erlaubt, also konnte man das Brot nicht schneiden.]

[DE: Nun, ich habe versucht, es in eine Abend- und eine Morgenportion zu teilen, damit ich etwas zu dieser Flüssigkeit zum Frühstück hatte.]

[DE: Aber das versuchte ich nur einmal und dann habe ich es aufgegeben.]

[DE: IV: Es ging nicht.]

[DE: EŠ: Es ging nicht.]

[DE: IV: Und wie haben sich dort die Aufseher und Aufseherinnen Ihnen gegenüber verhalten? ]

[DE: Gab es unter ihnen irgendwelche Unterschiede?]

[DE: EŠ: Das war immer unterschiedlich. Der eine versuchte, seine Minderwertigkeitskomplexe zu heilen, indem er uns schlecht behandelte.]

[DE: Der andere verhielt sich indifferent und erfüllte seine Pflicht.]

[DE: Na, und die SS-lerinnen, die waren schrecklich, nicht wahr. Das waren einfach Frauen, die sich zur SS gemeldet hatten. Da ist kein weiterer Kommentar nötig.]

[DE: Vielleicht sollte man noch den Meister erwähnen, bei dem ich gearbeitet habe. ]

[DE: Das war ein Deutscher aus dem Rheinland, der in Sachsen in der Fabrik eingesetzt war. ]

[DE: Wahrscheinlich war er froh, dass er dort eingesetzt war und nicht an die Front musste, denn er war ursprünglich Friseur. ]

[DE: Na, und hier arbeitete er auf einmal in der Schwerindustrie, würde ich sagen.]

[DE: Also, ganz am Anfang, da hat er mir nur Anweisungen gegeben, einfach was ich zu tun habe. ]

[DE: Na, und ich habe es dann gewagt, ihn anzusprechen. ]

[DE: Als er merkte, dass ich ganz gut Deutsch sprach, staunte er.]

[DE: Na, und dann haben wir uns ein wenig unterhalten, dass heißt, ich habe mich darum bemüht.]

[DE: Ich habe gefragt – das war dann aber schon später, als wir uns etwas kennen gelernt hatten – habe ich ihn gefragt,]

[DE: warum sie denn noch weiterkämpfen. Da gab es schon die Luftangriffe und jeden Mittag waren tausende Flugzeuge über uns, nicht wahr.]

[DE: Warum sie weiterkämpfen, warum sie nicht aufgeben und er sagte:]

[DE: "Na, weil wenn die Russen kommen, dann hacken sie uns die rechte Hand ab, mit der wir den Hitlergruß gemacht haben.“ ]

[DE: Und ich sagte: "Das glauben Sie?"]

[DE: Und er sagte: "Ja, natürlich."]

[DE: Na, aber er hatte auf jeden Fall Angst, mit mir zu sprechen, nicht wahr, das war im Verborgenen. ]

[DE: Na, ich würde sagen, er hat mir weder geschadet, noch geholfen, er hatte einfach Angst. ]

[DE: IV: Sie haben die Bombardements erwähnt. ]

[DE: Was konnten Sie eigentlich tun, wenn Bombardements gemeldet wurden?]

[DE: EŠ: Jeden Mittag flogen Hunderte, aber wirklich Hunderte Flugzeuge der Alliierten über uns und unsere Fabrik. ]

[DE: Die SS-Leute schlossen uns immer in der obersten Halle ein, da war ein Flachdach.]

[DE: Dort schlossen sie uns ein und selbst liefen sie in den Luftschutzkeller, na, und uns ließen sie dort.]

[DE: Und weil das eine verglaste Halle war, sahen wir den Himmel.]

[DE: Na, und wir freuten uns unglaublich, denn wir sahen, dass die Flugzeuge darüberflogen, ohne dass überhaupt versucht wurde einzugreifen.]

[DE: Da sagten wir uns: "Das ist prima. Sie können einfach nicht mehr, das Ende ist nah."]

[DE: Na, ob wir dieses Ende erleben würden oder nicht, das war eine andere Geschichte, nicht wahr. ]

[DE: Sie hätten auch über uns abwerfen können, weil wir ja damals Waffen gegen sie produzierten, ungewollt freilich.]

[DE: Und wir haben aber auch versucht, dass unsere Flügel manchmal ihren Dienst versagten, wenigstens das, nicht wahr.]

[DE: Ich habe zum Beispiel die Nietenschablone falsch herum angelegt oder so, nicht wahr, damit wir wenigstens auch einen Beitrag leisteten.]

[DE: IV: Sie haben erwähnt, dass Sie am Anfang auf dem Fabrikgelände untergebracht waren, wo haben Sie später gewohnt?]

[DE: EŠ: Später bauten sie äh über, bis Februar .. Im Februar kamen wir in die gerade fertig gestellten Baracken im Lager.]

[DE: Dort bauten sie weitere Baracken für uns, es war so ein Lager am Rande von Freiberg.]

[DE: Also hatten wir es weiter zur Arbeit, aber wir liefen immer im Finstern hin, nicht wahr, damit uns niemand sieht. ]

[DE: Und die Baracken waren fürchterlich, weil man sie eben im Winter fertiggestellt hatte, die waren feucht, ungeheizt.]

[DE: Und über Mittag, wenn auf den Flachdächern der Schnee taute, tropfte das alles rein auf unsere Pritschen.]

[DE: Wenn wir also von der Arbeit kamen, fanden wir völlig durchnässte Decken vor.]

[DE: Im März tropfte das Wasser einfach oft herein und häufig auch, während wir schliefen.]

[DE: IV: Das war wohl nicht sonderlich angenehm.]

[DE: EŠ: Die Wärme, die in der Fabrik herrschte, hatten wir da nicht.]

[DE: Aber die Ungeziefer haben wir da wahrscheinlich eingeschleppt, die waren dort wieder.]

[DE: IV: Sie haben auch erwähnt, dass Sie quer durch die ganze Stadt marschieren mussten.]

[DE: Hatten Sie irgendwelche Kontakte oder haben Sie irgendwelche Reaktionen der deutschen Zivilbevölkerung wahrgenommen?]

[DE: EŠ: Nein, nein, auch später, als wir zurückkamen, haben wir danach gefragt.]

[DE: Vielleicht hat jemand etwas geahnt, das vielleicht.]

[DE: Als einzige hat uns nach dem Krieg eine Frau gesagt, dass ihr Vater in der Fabrik gearbeitet hat. ]

[DE: Und dass er uns irgendwie erwähnt hat, aber sonst nichts.]

[DE: IV: Freiberg war aber nicht Ihre letzte Station auf Ihrer Irrfahrt durch die Kriegszeit. ]

[DE: Was geschah eigentlich, als die Front näher kam, damit endeten wahrscheinlich auch die Lieferungen an die Fabrik und ..]

[DE: EŠ: Im April 1945 war schon zu sehen, dass alles zusammenbricht.]

[DE: Da waren die Luftangriffe auf Dresden auch schon vorrüber, die uns aus nächster Nähe betrafen,]

[DE: denn das war sehr sehr nah, auch die Flüchlinge aus Dresden kamen im Grunde genommen aus Freiberg.]

[DE: Und tatsächlich hörten wir schon Anfang April auf zu arbeiten.]

[DE: Und am 14. April – aber das weiß ich erst im Nachhinein aus den Unterlagen, damals haben wir die Zeit natürlich nicht so wahrgenommen – ]

[DE: da verluden sie uns erneut in Waggons und dieses Mal ging es in Richtung Flossenbürg.]

[DE: Denn wir waren eigentlich ein Außenlager von Flossenbürg.]

[DE: IV: Woher wussten Sie das?]

[DE: EŠ: Das wussten wir irgendwie, wahrscheinlich weil wir Nummern hatten, und das waren Flossenbürger Nummern.]

[DE: IV: Und wie sahen diese Nummern aus?]

[DE: EŠ: Die waren auf unserer Kleidung aufgenäht. Oder darauf, was man als Kleidung bezeichnete. ]

[DE: Nun, dieses Mal fuhren wir also in offenen Waggons, in solchen, in denen Kohle oder Holz transportiert wird.]

[DE: Und wir fuhren in die Richtung zu unserer Grenze, die wir dann auch überquerten. ]

[DE: Das waren die Sudeten, nur wir dachten noch immer, dass wir eben in der Tschechoslowakei sind. Wir fühlten uns, als seien wir zu Hause.]

[DE: Na, und dann fuhren wir da lang, unterhalb des Erzgebirges, wir waren in Most, in Tře.., Třebech.., Třebechovice heißt das oder Třebonice oder so.]

[DE: IV: Třebušice.]

[DE: EŠ: Třebušice. Dort erlebten wir zu allem Überfluss noch einen Luftangriff.]

[DE: Und über Chomutov kamen wir dann also nach Pilsen. ]

[DE: Dort verlud man uns aus diesen Waggons in Viehwaggons, aus irgendeinem Grund.]

[DE: Aber weiter in Richtung Flossenbürg sind wir nicht gekommen.]

[DE: Wir wussten nicht genau warum, es wurde halt erzählt, nicht wahr, es gab Gerede.]

[DE: Entweder, weil uns die Partisanen nicht durch den Böhmerwald lassen oder weil in Flossenbürg schon die Amerikaner sind. ]

[DE: Wir wussten einfach, dass wir nicht nach Flossenbürg fahren. Das merkten wir, denn wir hatten die Karte der Republik noch im Kopf, nicht wahr.]

[DE: Und dann fuhren wir über Domažlice, Klatovy, Nýrsko.]

[DE: Na, aber das Beste war Horní Bříza {nachdrücklich}. In Horní Bříza hielten wir an.]

[DE: Die Leute dort bekamen es irgendwie heraus und es verbreitete sich, dass dort tschechische Gefangene stehen.]

[DE: Und die Leute kamen mit Essen. ]

[DE: Sie kochten uns Suppe und brachten sogar ein paar Buchteln und so.]

[DE: Na, die SS-Leute wollten das anfangs gar nicht zulassen, na, aber dann haben sie das Essen ganz schlau geordert.]

[DE: Das bessere behielten sie für sich, aber sie gaben uns auch etwas.]

[DE: Darum ist Horní Bříza in unseren Erinnerungen einfach ein Eldorado mit wahnsinnig netten Menschen, denn sie brachten Essen.]

[DE: Wir waren schon, ich weiß nicht wie lang auf Reisen und hatten nichts gegessen, nicht wahr, Sie können es sich vorstellen. ]

[DE: Na, und schließlich erreichten wir České Budějovice.]

[DE: Na, und von České Budějovice ging es weiter nach Süden, bis wir in Mauthausen ausstiegen.]

[DE: Dort trieben sie uns aus den Waggons.]

[DE: Das heißt, statt nach Flossenbürg kamen wir nach Mauthausen. Ende April war das.]

[DE: Na, und der Bahnhof von Mauthausen ist unten im Tal, das Lager ist oben.]

[DE: Das heißt der Weg aus dem Tal auf die Anhöhe war qualvoll.]

[DE: Ich wundere mich bis heute, dass ich das überhaupt laufen konnte, ]

[DE: denn ich hatte diese schwere Mittelohrentzündung mit vierzig Grad Fieber. ]

[DE: Na, aber ich habe es geschafft, die Mädchen haben mich gestützt {ergriffen}.]

[DE: Na, und sonst hatte Mauthausen einen fürchterlich schlechten Ruf, nicht wahr, das war bekannt, denn aus Mähren gingen die meisten Gefangenentransporte aus dem Kolleg, dem äh..]

[DE: IV: Kounic..]

[DE: EŠ: Aus dem Kaunitz-Kolleg nach Mauthausen und so..]

[DE: Ich selbst wusste, dass aus unserer Prager Gruppe, äh.. dass eines unserer Mitglieder in Mauthausen umgekommen war.]

[DE: Das heißt also, als ich die Aufschrift auf dem Bahnhof sah und meinen Zustand und die Festung da oben,]

[DE: da habe ich damals, glaube ich, nicht groß daran geglaubt, dass ich es überstehe.]

[DE: Aber ich habe mir gesagt: „Mädel, du musst.“ {ergriffen} ]

[DE: Na, und wir kamen ins Lager und ..]

[DE: Na, dort mussten wir wie üblich, nicht wahr, in Fünferreihen stehen, wir standen, standen und warteten.]

[DE: Na und hier hat mir, das vergesse ich nie zu erwähnen, sehr geholfen ..]

[DE: Können wir .. Ich muss mir wieder ein wenig die Tränen abwischen.]

[DE: IV: {unverständlich}]

[DE: EŠ: Nicht wahr. Aber ich muss mich dafür wappnen.]

[DE: IV: {unverständlich}]

[DE: EŠ: Nein, nein, es ist gut. Ich erinnere mich jetzt an diesen einen Mann und dann ist es wieder in Ordnung.]

[DE: Er kam zu mir, wie wir da so standen, da kam ein Häftling zu mir, nicht wahr, in diesem gestreiften Anzug.]

[DE: Und er sprach mich auf Deutsch an.]

[DE: Er fragte mich, woher ich komme, wer ich bin, wie alt ich bin, na, er hat einfach Kontakt aufgenommen.]

[DE: Und er sagte zu mir: „Na, ich bin Deutscher.“]

[DE: Ich glaube, aus Hamburg, aber ich weiß es nicht mehr sicher.]

[DE: "Und ich sitze schon 12 Jahre. Und wenn ich schon 12 Jahre sitze und das überstanden habe,]

[DE: dann wirst du diese Weile, diese maximal 12 Tage auch überstehen, das musst du überstehen."]

[DE: "Wenn ich es so lang überstanden habe, dann wird du das Ende auch überstehen."]

[DE: Na, möglicherweise hat er mir ein Stück Brot gegeben, das weiß ich nicht mehr genau.]

[DE: Ich denke, das Brot war in diesem Moment nicht so wichtig wie die Tatsache, dass es jemand 12 Jahre in so etwas aushalten kann. ]

[DE: IV: Das war sicher eine große Hilfe und eine moralische Stütze.]

[DE: Aber Sie waren ja ernsthaft krank, wie ging das weiter?]

[DE: EŠ: Nun, ich war so schlecht dran, dass meine Freundin aus dem Transport zufällig unter den tschechischen Häftlingen,]

[DE: die schon mehrere Jahre in Mauthausen waren ]

[DE: und die bei der Ankunft, gleich nachdem man uns aus den Duschen gelassen hatten und uns irgendwo unterzubringen versuchte –]

[DE: denn in Mauthausen waren nur Männer, das war ein Männerlager und auf einmal kamen Frauen dorthin –]

[DE: da erkannte sie unter diesen Häftlingen einen ihrer ehemaligen Komplizen, den sie vom Verhör in Pankrác {d. h. aus dem Gefängnis Prag-Pankratz} kannte.]

[DE: Dem zeigte sie mich und sagte, ich sei krank und ob er mir nicht irgendwie helfen könne. ]

[DE: Na, und am nächsten Morgen oder noch am gleichen Abend, denn das alles spielte sich abends und nachts ab, also ich weiß es nicht mehr,]

[DE: schickte er einen tschechischen Freund, einen Arzt, zu mir und der schaute sich das an. ]

[DE: Wahrscheinlich hat er nichts zu mir gesagt, ich weiß es nicht, aber am nächsten Tag oder noch am gleichen Tag, das .. Die zeitlichen Sachen habe ich einfach nicht mehr im Kopf.]

[DE: Ich wurde also sofort, wahrscheinlich so schnell es möglich war, von einem russischen Häftling weggebracht.]

[DE: Sie nannten ihn Pfleger, ein Krankenpfleger, der im Revier beschäftigt war. Das Revier war das Krankenhaus. ]

[DE: Also brachte er mich ins Häftlings.., also Krankenhaus zu Professor Podlaha {Prof. Josef Podlaha, Chirurg, später Dekan der medizinischen Fakultät der Masaryk-Universität in Brünn}. ]

[DE: Professor Podlaha {lacht} hat zuerst mit ihm geschimpft, weil er mich nicht rasiert hinbrachte – wir waren ja ganz kahlgeschoren.]

[DE: Aber bei mir waren die Haare schon wieder ein bisschen gewachsen, ich hatte schon wieder zwei, drei Zentimeter auf dem Kopf.]

[DE: Und er hatte mir nur die Hälfte des Kopfes rasiert.]

[DE: Da, wo ich diese Mittelohrentzündung hatte. Er sagte: "In ein paar Tagen ist es vorbei, du bist ein Mädchen."]

[DE: Ich hatte in Theresienstadt unter anderem auch Russisch gelernt, so konnte ich jetzt ein wenig mit ihm reden.]

[DE: Also er sagte: „Du bist ein Mädchen, bist rasiert, da sollst du wenigstens auf der einen Hälfte Haare haben.“ {lacht} ]

[DE: Und Professor Podlaha warf ihn hinaus und sagte: „Und was passiert mit der anderen Hälfte?"]

[DE: "Wer schneidet das? Du musst sie vollständig rasieren.“ {lacht}]

[DE: Na, und so rasierte er mir ganz mitleidig auch noch die andere Hälfte, er war so feinfühlig.]

[DE: Und er sagte: "Was soll man machen."]

[DE: Na, und ich lachte und sagte mir: „Nun, ob mit Haaren oder ohne {lacht}, Hauptsache am Leben.“ ]

[DE: Und dann empfing uns Professor Podlaha. Er war sehr nett zu mir. ]

[DE: Na, und dann, ich weiß nicht mehr wie, hat man mir irgendwie eine Narkose gegeben ..]

[DE: Na, auf jeden Fall wachte ich mit einem riesigen Verband auf dem Kopf auf, nicht wahr, den ganzen Kopf hatte ich verbunden.]

[DE: Aber mit Strümpfen an den Füßen, und das weiß wahrscheinlich nur ein ehemaliger Häftling, was das bedeutet, Strümpfe zu haben.]

[DE: Denn wir hatten nur diese Holzschuhe und höchstens noch ein paar Lappen.]

[DE: Na, und ich weiß, dass, bevor ich einschlief, Professor Podlaha zu mir sagte:]

[DE: „Na, und jetzt ist bald alles vorbei, alles wird gut. Du wirst sehen, dass du gesund zurück kommst.“]

[DE: Na, und dann wachte ich dann irgendwie schon wieder auf dem Revier auf, in einem Bett.]

[DE: Ich weiß, dass ich um mich herum die Mädchen reden hörte:]

[DE: „Schaut mal, sie lebt, sie lebt.“ Sie haben sich sehr gewundert. ]

[DE: Dann hörte ich irgendwelche Detonationen und Schüsse, und da wusste ich nicht, ob ich phantasierte oder ob es wahr war.]

[DE: Aber es war wahr, denn rund um Mauthausen wurden schon gekämpft.]

[DE: Die Amerikaner kamen, und es gab Kämpfe zwischen den SS-lern und den Amerikanern. ]

[DE: Nun, und dann eines Tages, das war schon der 5. Mai, kamen die Mädchen zu mir.]

[DE: Da ging es mir noch schlecht, aber die Mädchen kamen und sagten:]

[DE: „Ein amerikanischer Panzer war da. Er ist zwar gleich wieder gefahren, aber wir sind frei.“ ]

[DE: Und das, diese Nachricht .. Da übernahmen die Häftlinge das Lager. ]

[DE: Es stand dort eine illegale Widerstandsorganisation bereit.]

[DE: Und die übernahm augenblicklich und begann sich um den Lagerbetrieb zu kümmern.]

[DE: Und ich wurde eines Tages aus dem Gefängniskrankenhaus, wie es da üblich war, in die ehemaligen SS-Baracken verlegt, die man zu einem Krankenhaus umfunktioniert hatte.]

[DE: Na, und nach der Operation lag ich dann äh unter einer Decke, bezogen, auf einem Kissen, in einem normalen Bett.]

[DE: IV: Das muss ja fast ein Paradies gewesen sein.]

[DE: EŠ: Aber sicher.]

[DE: IV: Und wie ging es dann weiter? Ich nehme mal an, dass es wahrscheinlich Ihr größter Wunsch war, nach Hause zu kommen.]

[DE: EŠ: Der Transport nach Hause wurde vorbereitet, er sollte am 19. Mai abfahren.]

[DE: Und mein Problem war, dass ich noch bettlägerig war. Ich lag im Bett.]

[DE: So habe ich schnell .. Es sollte eine Gesundheitskommission kommen und auswählen, wer gleich im ersten Transport nach Hause fährt und wer aus gesundheitlichen Gründen noch da bleiben muss.]

[DE: Da habe ich schnell aus einer alten SS-Uniform irgendwelche Kleider genäht und versucht, durch das Zimmer zu laufen.]

[DE: Na, das ist mir geglückt. Ich habe gelernt zu gehen.]

[DE: Und als die Kommission kam, habe ich gezeigt, dass ich laufen kann, und so kam ich in den ersten Transport nach Hause. ]

[DE: Der Transport bestand aus mehreren Lastwagen, die die Jungs organisiert und in Ordnung gebracht hatten, und einem Bus. ]

[DE: Dieser Bus war für die Schwächeren gedacht wie eben ich es war.]

[DE: Also fuhr ich mit dem Bus. Wir fuhren nach Budějovice.]

[DE: Auf der Fahrt mussten wir anhalten, denn bei uns war auch eine junge Mutter, bei der die Wehen einsetzten.]

[DE: IV: Und ist alles gut gegangen? ]

[DE: EŠ: Alles ist gut gegangen, in Budějovice ließen sie sie zusammen mit dem Kind in der Klinik.]

[DE: Und diese heute 60-jährige Frau lebt bis heute und ist sehr hübsch. {lacht} ]

[DE: IV: Und wie sind Sie dann von Budějovice aus weitergefahren?]

[DE: EŠ: In Budějovice sind wir umgestiegen, nach der Begrüßung auf dem Platz mit Brot und Salz und vielen Ehren.]

[DE: Wir stiegen in einen extra vorbereiteten Zug um und dieser Zug brachte uns bis nach Prag.]

[DE: Also, ich fuhr bis nach Prag. Wie die Nichtprager weiterfuhren, weiß ich nicht mehr.]

[DE: Aber unser Zug brachte uns nach Prag zum Hauptbahnhof.]

[DE: Und ich weiß, dass wir über den Bahnhof Vršovice fuhren. Dort liefen schon Leute herum und riefen Namen, ob nicht jemand angekommen ist.]

[DE: Denn offenbar fuhren die Züge schon wieder und die Leute kehrten zurück, und so suchte jeder seine Verwandten.]

[DE: IV: Und was haben Sie getan, als Sie auf dem Hauptbahnhof ausgestiegen sind?]

[DE: EŠ: Ich hatte in Prag eine Cousine, und so bin ich natürlich sofort zu ihr gegangen. ]

[DE: Sie wohnte in Karlín, ich stieg also in die Straßenbahn.]

[DE: Ich stellte fest, dass ich kein Geld habe, dass ich nichts habe.]

[DE: Aber damals kamen noch Schaffner durch, und so hab' ich zum Schaffner gesagt:]

[DE: „Entschuldigen Sie, ich habe nichts, ich komme aus dem Konzentrationslager, nehmen Sie mich mit.“ ]

[DE: Und so nahm er mich mit. Ich kam in Karlín an, schon abends nach zehn, nicht wahr. ]

[DE: Das Haus war verschlossen, ich klingelte beim Hausmeister.]

[DE: Und ich weiß, dass man immer fünf Kronen hergab, und so habe ich mich entschuldigt, dass ich nicht mal diese fünf Kronen habe, ]

[DE: aber dass ich zu Fräulein Žádková will und dass ich ihre Verwandte bin.]

[DE: Na, und er ließ mich dann wirklich zu ihr.]

[DE: Na, und ich kam also so spät an dem Abend zu meiner Cousine, bei der ich dann eine Weile wohnte.]

[DE: Na, und vor allem musste ich .. In die Wohnung meiner Eltern bin ich nicht gegangen.]

[DE: Na, ich musste mich umsehen, was ich mit mir anfangen wollte, um es mal so auszudrücken, nicht wahr.]

[DE: Na, und ich habe eine Möglichkeit gefunden, aufs Lehrerinstitut zu kommen. Damals dauerten die Lehrerinstitute vier Jahre. ]

[DE: Ich sagte mir, das ist gut, da bin ich nach den vier Jahren Lehrerinstitut in der Lage mich zu ernähren, nicht wahr.]

[DE: Ich musste mir etwas suchen, womit ich mich schnell ernähren konnte.]

[DE: An irgendein langes Studium konnte ich keinen Gedanken verschwenden.]

[DE: Also bin ich da hin, das habe ich mir ausgesucht, und sie sagten mir die Bedingungen, unter denen sie mich nehmen.]

[DE: Ich glaube, sie gaben mir Bücher und Material, mit dem ich lernen konnte.]

[DE: Na, und dass ich im September zur Aufnahmeprüfung kommen sollte.]

[DE: Und so habe ich den ganzen Sommer lang gelernt.]

[DE: IV: Sie haben erwähnt, dass Sie die Ferien, wenn man es so nennen kann, damit verbrachten sich auf die Aufnahmeprüfungen für das Lehrerinstitut vorzubereiten.]

[DE: Warum haben Sie ausgerechnet diesen Beruf gewählt?]

[DE: EŠ: Das hatte mehrere Gründe. Einmal habe ich mich an die Arbeit mit den Kindern und Friedel Brandeis in Theresienstadt erinnert. ]

[DE: Äh dann war das Lehrerinstitut ein Institut, das es mir nach einem kürzeren Studium ermöglichen würde, mich zu ernähren.]

[DE: Und dazu noch einen Beruf zu haben, der mir gefällt.]

[DE: Na, und nicht zuletzt war ein Grund, möglicherweise auch der in gewisser Weise tiefste, meine Erfahrung in Auschwitz,]

[DE: als ich um mich herum das Grauen mit diesen Kindern gesehen hatte, die im gleichen Zug wie ich gekommen waren.]

[DE: Und möglicherweise musste ich dieses Grauen überwinden und einfach mit normalen, fröhlichen Kindern arbeiten.]

[DE: IV: Na, dann denke ich mal, das hat geklappt, wenn Sie es so lange in diesem Beruf ausgehalten haben. ]

[DE: Aber nicht nur Sie sind meines Wissens nach Hause oder nach Böhmen zurückgekehrt.]

[DE: Zumindest für kurze Zeit traf das auch auf Ihre Schwester zu. Wie ist das verlaufen?]

[DE: EŠ: Meine Schwester wurde in Bergen-Belsen befreit, von den Engländern. ]

[DE: Weil sie Sprachen konnte, haben sie sie irgendwie ausgesucht.]

[DE: Zuerst als Dolmetscherin und dann sogar als, ich weiß nicht, als Verbindungsoffizierin oder so etwas ähnliches.]

[DE: Sie hatte dort eine recht gute und herausragende Stellung.]

[DE: Und auf irgendeine Weise fand sie damals recht schnell heraus, dass ich lebte und in Prag war.]

[DE: Also kam sie wieder zu meiner Cousine nach Prag.]

[DE: Das war so unser Ort, nicht wahr, der Rettung. Na, und dort trafen wir uns wieder. ]

[DE: Und sie war aber bereits nicht nur amtlich, sondern auch persönlich verpflichtet, um es mal so zu sagen {lacht}, bei der Militärverwaltung in Hannover.]

[DE: Und sie wollte, dass ich mit ihr nach Hannover gehe]

[DE: und dass wir dann zusammen nach Amerika gehen, denn sie würde einen Amerikaner heiraten. ]

[DE: Na, und das habe ich dann abgelehnt, und so reiste sie dann nach einiger Zeit, ]

[DE: ich weiß nicht genau wie lange, aber nach kurzer Zeit, ich weiß nicht, ob nach einer Woche oder so, da reiste sie dann zurück nach Deutschland.]

[DE: Und dann weiter nach Amerika, und ich bin hiergeblieben.]

[DE: IV: Sie konnten sich gar nicht vorstellen wegzugehen?]

[DE: EŠ: Nein, ich konnte mir das nicht vorstellen, ich wollte einfach nicht weg. ]

[DE: Ich wollte nicht weggehen, ich wollte auch keine Last sein.]

[DE: So eine Last, wenn jemand einen Ausländer heiratet, mit ihm ins Ausland geht und die jüngere Schwester mitnimmt..]

[DE: Na, also in diese Rolle wollte ich nicht geraten.]

[DE: Aber ich konnte einfach auch nicht weg. Ich hatte mich so lange auf Prag gefreut, ich habe auch deswegen durchgehalten.]

[DE: Und nun auf einmal weggehen, das, das kam für mich überhaupt nicht in Frage.]

[DE: IV: Aber Sie haben dann ja auch langsam begonnen, sich Ihr Leben einzurichten.]

[DE: EŠ: Der Arzt, der mich in Mauthausen gesehen hatte, also am ersten Tag nach der Ankunft ]

[DE: und der mir die Operation bei Professor Podlaha verschafft hatte, das war ein Arzt, ein tschechischer Häftling, ]

[DE: der schon seit äh, dem Jahr 1942 dort war. Das war eigentlich die schlimmste Zeit nach dem Attentat auf Heydrich, und seit der Zeit war er inhaftiert.]

[DE: Na, in der Pečkárna {d. h. Petschek-Palais, Sitz der Gestapo in Prag} und dann in Pankrác und dann in verschiedenen Konzentrationslagern bis hin zu Mauthausen, wo wir uns trafen.]

[DE: Und dann trafen wir uns einige Zeit später in Prag wieder. ]

[DE: Na, und noch etwas später fuhren wir zusammen zum Wassersport auf der Lužnice in den Urlaub, und dann irgendwann habe ich ihn geheiratet.]

[DE: IV: Und ich nehme an, dann kamen auch Kinder.]

[DE: EŠ: Ja, ich habe Kinder. Gleich im Jahre 1946 bekam ich meinen Sohn, der jetzt 60 geworden ist, und zwei Jahre später meine Tochter.]

[DE: Na, aber ich habe nebenbei das Lehrerinstitut abgeschlossen, das währenddessen zum pädagogischen Institut geworden war, es gab ständig irgendwelche Neustrukturierungen, nicht wahr.]

[DE: Na, dann war ich einige Zeit bei den Kindern und dann gab ich die Kinder in den Kindergarten ]

[DE: und begann zu arbeiten, und ab der Zeit habe ich dann immer unterrichtet.]

[DE: IV: Wie ich sehe, hatten Sie gleich von Beginn an die wertvolle und angenehme Sorge um die Kinder. ]

[DE: Hatten Sie zum Beispiel Probleme, sich in die Nachkriegsrealität hineinzufinden und wieder in das bürgerliche Leben hineinzukommen?]

[DE: EŠ: Ich denke, am Anfang hatte ich ein paar Mal irgendwelche Träume, dass mich jemand verfolgt und schnappt und so. ]

[DE: Aber dann mit den Kindern und den alltäglichen Sorgen und der schönen Familie,]

[DE: die mir auch die Familie meines Mannes bot, dass sie mich aufnahmen, also nie. {stark ergriffen}]

[DE: IV: Das höre ich gern. ]

[DE: Und ich wollte eigentlich noch fragen.. Sie haben eine interessante Episode direkt aus der Zeit nach dem Krieg erwähnt.]

[DE: Sie hing mit der deutschen Bevölkerung zusammen.]

[DE: EŠ: In, in Bor, meinen Sie, ja? ]

[DE: IV: Hm.]

[DE: EŠ: In den ersten Ferien, als mein Sohn zur Welt kam, da ist mein Mann {hustet} allein mit Freunden zum Wassersport und mir besorgte er eine Unterkunft.]

[DE: Eine Sommerwohnung, so nannte man das, mit Kind, denn ich konnte ja nicht aufs Wasser, mein Sohn war {lacht} ein paar Monate alt, in Nový Bor hier im Grenzgebiet. ]

[DE: Und ich habe jetzt vor kurzem, als ich umgezogen bin, Briefe gefunden, die ich ihm damals in die Ferien geschrieben habe, von meinen Eindrücken aus dem Grenzgebiet.]

[DE: Und in den Briefen schreibe ich mit so einem gewissen unangenehmen Gefühl, dass die Deutschen dort mit weißen Armbinden gekennzeichnet sind,]

[DE: dass sie niedrige Zuteilungen bekommen und dass man seltsam mit ihnen umgeht. ]

[DE: Schon damals muss mir das unangenehm gewesen sein, dass man mit ihnen, dass unsere Leute ein bisschen so mit ihnen umgehen,]

[DE: dass es mich an die Deutschen damals erinnerte, und dass mir das unangenehm war.]

[DE: IV: Hat Ihre Lebenserfahrung irgendwie die Beziehung zu den Deutschen beeinflusst?]

[DE: EŠ: Ich sehe das heute so, dass wir einfach die neue Generation nicht mit einer Erbsünde belasten dürfen, ]

[DE: damit das nicht zu einem Neonazismus oder Revanchismus führt. Allerdings müssen sie wissen {nachdrücklich}, was passiert ist. ]

[DE: Ich sage ihnen immer, dass man verzeihen kann, auch wenn ich nicht von verzeihen spreche.]

[DE: Ich habe einfach kein Recht, etwas zu verzeihen, ich lebe.]

[DE: Und die Toten, was weiß denn ich, ob sie verzeihen würden oder nicht? Und so spreche ich nicht von Verzeihen.]

[DE: Aber dass man nicht vergessen kann ]

[DE: und dass man nicht vergessen kann, einfach weil sich so etwas nie und an niemandem wiederholen darf, und das sollte die junge Generation wissen.]

[DE: Aber ich versuche immer zu zeigen, dass ich kein rachsüchtiges Monster bin, wie es ihnen manchmal erzählt wird.]

[DE: Dass ich einfach in der Lage bin, mit ihnen zu reden, dass ich nicht jeden als Täter betrachte.]

[DE: Sondern dass man die Täter finden und bestrafen muss, damit allen die Lust vergeht, solche Taten zu wiederholen.]

[DE: IV: Ich weiß, dass für Sie diese Arbeit mit der Jugend und mit Kindern sehr wichtig ist.]

[DE: Und dass Sie versucht haben, das mit Ihren eigenen Erlebnissen zu verbinden, dass Sie also Mitverfasserin eines recht interessanten Buches sind ]

[DE: und zwar des Lesebuchs „Ein Weg – Ziel unbekannt“, das tschechischen Kindern und Jugendlichen gerade diese Zeit nahe bringen soll. ]

[DE: Was hat Sie dazu gebracht, dieses Buch zu schreiben?]

[DE: EŠ: Schon im Hinblick auf meinen Beruf habe ich mir gesagt, dass man mit der Vermittlung der Vergangenheit bei den Kindern beginnen muss.]

[DE: Und zwar nicht so, wie wir das gelernt haben, Daten, Jahreszahlen, höchstens noch irgendwelche Herrscher,]

[DE: sondern indem man ihnen das Schicksal einfacher Menschen näher bringt und anhand dessen die Geschichte zeigt.]

[DE: Und dann habe ich den Gedanken aufgegriffen, um die Geschichte des Weltkrieges zu zeigen ]

[DE: und speziell die des Holocausts, den ich am eigenen Leib erlebt habe und von dem ich wohl mit sehr viel Kompetenz sprechen kann, ]

[DE: und habe ein Lesebuch entworfen, in dem wir gerade die Kinder –]

[DE: und zwar nicht nur im Geschichtsunterricht, sondern auch in anderen Fächern, zum Beispiel in Tschechisch oder in Kunsterziehung – ]

[DE: mit dem Schicksal von Menschen vertraut machen, die den Krieg erlebt haben. ]

[DE: Und wie ich sage, weil ich den Holocaust sehr gut kenne, ich habe ihn ja erlebt,]

[DE: habe ich versucht zu zeigen, wie verschiedene Leute den Holocaust erlebt haben, verschiedene junge Leute {nachdrücklich}.]

[DE: Denn ich wollte der Jugend junge Leute zeigen, {die} ihre Jugend an verschiedenen Orten verbrachten, in der Armee, im Konzentrationslager, im Arbeitslager.]

[DE: Es gibt zum Beispiel darin auch eine Erinnerung an die Kristallnacht in Deutschland, die ich besonders gut finde.]

[DE: Oder ich habe zum Beispiel ein Mädchen gefunden, das den Krieg in einem Kloster irgendwo in Frankreich überlebte und so. ]

[DE: Ich wollte einfach die Erlebnisse verschiedener junger Leute aus dem Krieg zeigen, ]

[DE: aber auch die Literatur, die sich darauf bezieht.]

[DE: Die Arbeiten und die Lyrik unserer Künstler, die irgendwie mit dem Widerstand oder mit der Zeit in Verbindung standen.]

[DE: Und ich wollte, dass den Kindern mit diesem Lesebuch unsere Erlebnisse näher gebracht werden, damit ihnen das näher ist.]

[DE: Damit sie gerüstet sind gegen verschiedene zum Beispiel verzerrte Informationen, denen sie im Leben begegnen.]

[DE: IV: Hm, da ist es also sehr gut, dass ein solches Buch entstanden ist.]

[DE: Ich möchten Ihnen, Frau Štichová, gern für das Gespräch danken.]

[DE: Und Ihnen jetzt noch Gelegenheit geben, wenn Sie möchten, zum Schluss unseres Gespräches noch etwas hinzuzufügen.]

[DE: EŠ: Na, ich denke, als ich gesagt habe, dass ich mir nur wünsche, dass nie, nirgendwo solche Dinge geschehen, wie sie uns geschehen sind, ]

[DE: das reicht als Schlusswort.]

[DE: Aber leider weiß ich schon, dass das nicht so leicht ist.]

[DE: Und dass es nicht so sein muss, was für mich manchmal sehr schwer ist.]

[DE: IV: Ich danke Ihnen vielmals.]